Der Expressionismus – einer der Ausgangspunkte der Moderne
Ein Merkmal für wichtige Richtungen innerhalb der modernen Kunst ist ein zunehmender Verzicht auf das Ziel, mit Kunstwerken ein naturgetreues Abbild der sichtbaren Wirklichkeit zu geben. Es gibt verschiedene Erklärungen, wie es dazu kommen konnte. Einer der Gründe liegt sicherlich in der Erfindung und raschen Entwicklung der Fotografie, mit der man in der Lage war, schnell und preiswert Bilder zu erstellen, die scheinbar objektiv und genau die Wirklichkeit darstellen konnten.
Der Kunsthistoriker C.J. Janowitz erläutert wesentliche Merkmale des Expressionismus. Diese Kunstepoche zu Beginn des 20. Jahrhunderts war in Deutschland Wegbereiter zur Moderne:
Grundlagen und geistige Konzeption
Expressionismus entsteht aus einer neuen Stellung des Künstlers zur Welt, zur Umwelt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist diese Welt in Europa geprägt durch
- eine rasch fortschreitende Industrialisierung
- die Eroberung der Welt durch die Maschine
- schnell sich ändernde Zivilisation
- Materialismus und Zynismus
- Ausbeutung und Vermassung der Menschen
- die starren und verlogenen Forderungen von Familie und Gesellschaft mit all ihren autoritären Strukturen und Tabus
- Das subjektive Moment: Selbstverwirklichung, Entladung von Spannungen, von seelischem Druck, von bedrängenden, bedrückenden Erlebnissen, von Visionen, von inneren Erkenntnissen.
- Das objektive Moment: Mitteilung alles dessen an die Öffentlichkeit mit dem Anspruch, die individuelle Unruhe und persönliche Konfliktsituation seien typisch, also allgemein gültig und somit mitteilungsnotwendig.
Verhältnis der Expressionisten zur Dingwelt
Da es die Innenwelt des Expressionisten ist, die nach außen drängt, ist nur zu verständlich, daß die Aussenwelt, die Welt der Dinge, die sogenannte objektive Welt, nur bedingt Material liefern kann, um die Innenwelt zu veranschaulichen. Somit tritt der Expressionist auch in ein völlig neues Verhältnis zur Erscheinungswelt, zur Natur.
- Er sieht sie mit anderen Augen an.
- Er gewinnt ihr andere Aspekte ab, die bisher verborgen waren.
- Er untersucht sie auf ihre Brauchbarkeit für seine Sprachmittel.
➜ Der Maler legt also keinen Wert mehr auf genaue Abbildung, keinen Wert auf die Wiedergabe des Erscheinungsbildes. Er verläßt somit die 500-jährige abendländische Tradition, mit deren Maßstäben man heute noch hier und da die Phänomene der modernen Kunst messen und bewerten zu können glaubt.
Der Maler verzichtet weitgehend auf
- Perspektive, Räumlichkeit und Tiefe
- Plastizität
- anatomische Genauigkeit
- Licht und Schatten
- richtige Größenverhältnisse
- Stofflichkeit
- Wiedergabe von Lokalfarben
Die Objekte unserer Außenwelt erhalten eine völlig andere Funktion. Sie werden durch die Transformationen des Malers zu Zeichen. Bisweilen hat man den Eindruck, daß der expressionistische Maler auf Grund seiner starken Erlebnisfähigkeit die Natur unter solchen Druck setzt, daß sie ihre gewöhnliche, alltägliche, zufällige, oberflächliche Form verliert und ihr wahres, inneres Wesen verrät, ähnlich als würde man Menschen aus ihrer gewohnten Alltäglichkeit ohne Tiefen und Höhen in eine ungewohnte, extreme, existentielle Situation stellen, in der sie ihre Maske verlieren und in der ihr wahrer Charakter sichtbar wird.
"Es ist deshalb nicht richtig, meine Bilder mit dem Maßstab der naturgetreuen Richtigkeit zu beurteilen, denn sie sind keine Abbildungen bestimmter Dinge und Wesen, sondern selbständige Organismen aus Linien, Flächen und Farben, die Naturformen nur soweit enthalten, als sie als Schlüssel zum Verständnis notwendig sind. Meine Bilder sind Gleichnisse, nicht Abbildungen."
(Ernst Ludwig Kirchner)
So entsteht schließlich auch hier wieder ein Spannungsverhältnis, diesmal zwischen der Welt der optischen Erscheinungen und dem Empfundenen, Erlebten, Gedeuteten.
Die bildnerischen Mittel
Alle bildnerischen Mittel gehen auf Ausdruck aus.
• Form
Formen, Flächen und Linien werden vereinfacht, gewinnen dadurch an Eigenart, werden selbstbewußt, oft brutal, bizarr, spitzig, grob, schreiend, vordrängend, wild, erregt, ausfahrend, unruhig, zuckend, wuchtig, dissonant, bizarr, nervös.
• Farbe
Die Farben sind oft rein, ungebrochen, wenig differenziert, intensiv, schreiend, leuchtend, grell, oft ohne Zwischentöne, in großen Flächen konzentriert. Schwarz wird bewußt als Farbe benutzt. Steigerung der Leuchtkraft wird durch Großflächigkeit und durch schwarze Konturen erreicht.
Häufig wird der Farbe ein Symbolwert oder reiner Ausdruckswert unterlegt, so daß sie sich bisweilen mit der Farbe des Gegenstandes nicht mehr deckt. Blau z.B. wird "outriert" (über die natürliche Farbe hinaus übertrieben), um die Bedeutung des Himmels zu charakterisieren oder etwa ein Tier in Verbindung mit dem Kosmischen zu zeigen. Rot kann u.a. das Kraftvolle in der Natur bedeuten, etwa, wenn Pferde rot gemalt werden etc.
• Komposition
Die Komposition der Bildelemente geht nicht auf Ausgewogenheit, Schönheit und Harmonie aus. Der Expressionist sucht die Spannung, scharfe Rhythmen, Unruhe, wilde Bewegung, Synkopen, Disharmonie.
Wichtigstes Mittel, dies zu erreichen, ist der Kontrast:
- Hell - Dunkel - Kontrast
- Schwarz - Weiß - Kontrast
- Warm - Kalt - Kontrast
- Komplementär - Kontrast
- Kontrast durch das Nebeneinander zwei sehr nahe verwandter Farben
- Form - Kontrast
Ausdruck wird ferner erzielt durch
- starke Vereinfachung
- Weglassen von Einzelheiten
- Beschränkung auf das Wesentliche
• Die Deformation
Das grundlegende neue Mittel, Ausdruck zu erzielen, ist die Deformation des optischen Erscheinungsbildes. Schon die Tatsache, daß sich die Zeitgenossen daran stießen, zeigt die Wirkungskraft dieses Mittels.
Kulturpsychologisch betrachtet ist es sicher bezeichnend für unser Jahrhundert, wenn der Mensch auf dem Bild des Malers verzerrt und deformiert wird. Drei Gesichtspunkte sollen dabei aber nicht außer acht gelassen werden:
• Sehr oft macht die Verzerrung der menschlichen Gestalt die inneren Kräfte und Spannungen sichtbar, die den Menschen quälen und biegen. Mitleid, Entsetzen, innerer Schmerz, extreme Freude, jede gesteigerte Gefühlsbewegung vermag auch äußerlich das Gesicht eines Menschen bis zur Grimasse zu verzerren. Die künstlerische Steigerung und Verdichtung kann dann kaum als Deformation im negativen Sinn aufgefaßt werden.
• Daß der Maler in einem zweiten Schritt das oben geschilderte Mittel auf den gesamten Menschen und sogar auf die Gegenstände überträgt, ist nur konsequent, da ja das gesamte Bild die Aufgabe hat, eine bestimmte Stimmung und eine bestimmte Aussage zu machen.
Die Verselbständigung der Bildelemente kann in der weiteren Entwicklung der Kunst dazu führen, daß sie schließlich ein Eigenleben führen, das stärker ist als das der dargestellten Gegenstände. Dieser Weg vom Gegenstand zum autonomen Bildelement kann über die Abstraktion und/oder über die expressive Deformation führen. […]
Expressionistisches Bild und Betrachter
Für den Expressionisten sind also die Impulse wichtig, die vom Bild ausgehen und im Betrachter eine starke Wirkung hinterlassen sollen. Der Betrachter kann aber nur stark beeindruckt werden, wenn die Impulse von einem ausdrucksstarken "Sender" ausgehen.
Oft taucht beim Betrachter die Frage auf: Was soll das Bild ausdrücken? Oder gar: Was soll jenes Bildelement ausdrücken? Viele expressionistische Bilder können auf solche Fragen eine unmittelbare Antwort geben, andere aber nicht. Man mache sich dann folgendes klar:
• Malerei ist eine Sprache mit anderen Mitteln als denen der Worte. Besonders der Expressionismus spricht eine moderne Sprache, deren Vokabular und Grammatik uns vielleicht noch nicht so recht im Ohr ist, obwohl Musik und Malerei oft unmittelbarer verständlich sind als eine fremde Sprache oder Sprache überhaupt.
• Viele Menschen unserer Zeit haben keinen Kontakt mehr zur Natur und können Natur daher nicht erleben. Da viele Bilder der Expressionisten Echo auf Naturerlebnisse sind, bleiben sie schon vom Thema her diesen Menschen verschlossen.
• Bisweilen ist die Bildsprache der Maler so individuell, daß ihre Allgemeinverbindlichkeit in Frage gestellt werden kann.
• Oft ist allerdings die Fragestellung: "Was soll das Bild ausdrücken?" von vornherein falsch, da manche Bilder zwar ausdrucksstark sein sollen, nicht aber etwas Spezielles ausdrücken oder gar erzählen wollen.
Eine Vielzahl der in dem Text oben genannten Merkmale findet man in dem Bild von Ernst Ludwig Kirchner 'Selbstbildnis als Soldat'.
Kirchner meldete sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges meldete sich Kirchner wie zu dem Zeitpunkt viele junge Männer als Freiwilliger. Seine Erfahrungen als Soldat müssen für ihn unerträglich gewesen sein. Nur wenige Monate ertrug er dies, dann wurde er Anfang November nach einem nervlichen Zusammenbruch beurlaubt. Schnell geriet er in Abhängigkeit von Medikamenten und immer wieder Einweisungen in Nervenheilanstalten. Als Folger der Erkrankung traten Lähmungserscheinungen auf. Er glaubte, niemals wieder malen zu können.
In dem Bild zeigt er sich selbst in Uniform mit einer amputierten rechten Hand. Eine deformierte Gestalt mit schwarzen Augenhöhlen. Ein Maler in seinem Atelier mit Aktmodell. Der Maler zeigt seine totale seelische Zerstörung, die ihn zu der Überzeugung kommen lässt, niemals wieder als Künstler arbeiten zu können.