Dadaismus
Hugo Ball in Kostüm im Cabaret Voltaire
Als totale Rebellion gegen die kulturellen Formen
der fadenscheinig gewordenen künstlerischen und gesellschaftspolitischen
Konvention entstand am 8. Februar 1916 in Zürich mit der
Emigranten-Bühne des ›Cabaret Voltaire‹ eine erste alle Kunstgattungen
umfassende Dada-Bewegung, die innerhalb kurzer Zeit internationale
Ausweitung fand. Die Bezeichnung ›Dada‹ für diese destruktiv-satirische
Kunstrichtung entstand mehr oder weniger zufällig, als zwei Künstler der
Gruppe, Richard Huelsenbeck und Hugo Ball, auf der Suche nach einem
Namen für ihr Züricher Theater beim willkürlichen Aufschlagen eines
deutsch-französischen Lexikons auf den Begriff ›dada‹ stießen.
Vom
Emigrantentum und vom Protest gegen den Krieg gezeichnet, wurde für die
Dada-Vertreter der Widerspruch zwischen der Praxis des Lebens und der
idealisierten Welt traditioneller Kunst unerträglich. Daher zerschlugen
sie den Elfenbeinturm einer harmonisch schönen Kunst und proklamierten
statt dessen die Anti-Kunst des Protests, des Schocks, des Skandals mit
Hilfe ironisch-satirischer, objektbezogener Sprachmittel. Das Absurde,
das Wertlose wurde in seiner realitätsprägenden Bedeutung aufgedeckt und
das Chaos in der künstlerischen Inszenierung ins Bewußtsein gehoben, so
daß aus der Destruktion traditioneller Kunstformen, aus dem
gestammelten Gebrüll der Lautpoesie und Geräuschmusik, aus dem Montieren
von Fragmenten und Abfallgegenständen des Alltags die Identität von
Kunst und Leben als neuer Anfang einer problemorientierten Kunst der
Wirklichkeit gesetzt wurde.
• Nach der Gründung von Dada in Zürich
durch Hans Arp, Tristan Tzara, Hugo Ball, Richard Huelsenbeck und Marcel
Janco fand diese Anti-Kunst sehr schnell ihre Ausweitung auf die
damaligen Kunstzentren Paris, Köln, Berlin, New York.
• Die Gründer-Gruppe
erweiterte sich in Berlin durch Raoul Hausmann, Johannes Baader, George
Grosz und John Heartfield, die sich intensiv auf die
politisch-gesellschaftskritische Satire konzentrierten und dazu mit der
Fotomontage, der freien Typografie, der Plakatagitation geeignete
Ausdrucksformen entwickelten.
• 1919 gründeten der aus Zürich kommende
Hans Arp, Max Ernst und J. T. Baargeld die Kölner Dada-Gruppe. Die 1920
stattfindende Dada-Ausstellung in einem Kölner Brauhaus wurde von der
Polizei als sittenwidrig geschlossen.
• Gegen Ende des Jahres verließ Arp
Köln und ging nach Paris. Max Ernst folgte ihm 1922.
• In Paris und
New York vollzog sich eine Verbindung zwischen dem Dada-Geist und dem
aufkommenden Surrealismus, getragen von Max Ernst, Man Ray, Francis
Picabia und vor allem Marcel Duchamp.
Die vom Kubismus entwickelte Collagetechnik wurde als Demontage auf die verschiedensten Materialien angewendet, die Sprache löste sich in ihre Lautelemente auf und erbaute sich neu in simultanen Klangassoziationen oder in den Textbildern, die ihre Spontaneität aus der Verbindung von Bild und Wort beziehen. Die freie Form, die Möglichkeit aller Dinge der Wirklichkeit, Objekte künstlerischer Praxis zu sein, bildeten die Grundprinzipien dieser Kunstrebellion durch Anti-Kunst und setzten zugleich neue konstruktive, da unverbrauchte, Ausdrucksmöglichkeiten frei.
Vor allem Marcel Duchamp
erprobte mit seinen Readymades neue Maßstäbe der Kunstproduktion, indem
er auf einer New Yorker Ausstellung von 1919 ein industriell gefertigtes
Serienprodukt wie das Klosettbecken mit dem phantastischen Titel
›Fontäne‹ zum Kunstwerk deklarierte. Hier erlebte die Kunst der Moderne
ihre neue Definition und Funktionsbestimmung, denn der Akt des
Hinweisens auf die erlebbare Realität wurde wichtiger als das materielle
Endprodukt der künstlerischen Tätigkeit. Duchamp sagte von seinem
Readymade: »Es ist ein Gegenstand, der durch die bloße Auswahl des
Künstlers zur Würde eines Kunstgegenstandes erhoben wird.«
So wurde die Dada-Bewegung zur Geburtsstätte neuer Methoden des künstlerischen Darstellens, indem sie mit grenzenloser Experimentierfreude die Errungenschaften moderner Technik, wie z. B. Fotografie und Film, der Kunst dienstbar machte.
aus: Karin Thomas, DuMont’s Sachwörterbuch zur Kunst des 20. Jahrhunderts, Köln 1993