Christo – sein Lebenswerk

Christo ist im Sommer 2020 verstorben. In der Zeitung 'Die Zeit' erschien ein Nachruf, in dem das Lebenswerk Christos und seiner Frau Jeanne-Claude dargestellt wird.

Es gibt zahlreiche Fotos der Arbeiten des Ehepaars. Sie sind u.a. auf deren Homepage zu finden.


Martin Tschechne / 1. Juni 2020

Christo – Der Landschaftsbemaler

Durch die Kunst der Verhüllung schenkten Christo und seine Partnerin Jeanne-Claude uns neue Blicke auf Landschaften und Gebäude. Nun ist Christo gestorben. Ein Nachruf

Wer als Künstler seinen Projekten zwanzig und mehr Jahre Zeit gibt bis zu deren tatsächlicher Vollendung, der erklärt sich zum Diener der Kunst. Der bescheinigt ihr, größer zu sein als zum Beispiel das eigene Ego. Und der bestätigt, dass es nicht die Eingebung eines beseelten Augenblicks ist, die ein Kunstwerk entstehen lässt. Sondern dass es ein langer, mühsamer, oft auch demütigender Prozess ist.
Christo Jawaschew, geboren am 13. Juni 1935 in Gabrowo im damaligen Zarentum Bulgarien als Sohn eines wohlhabenden Chemiefabrikanten, hat seine Kunst so betrachtet. Genauer gesagt: Er und seine Ehefrau und künstlerische Weggefährtin haben es: Jeanne-Claude Denat de Guillebon, geboren ebenfalls am 13. Juni 1935, in Casablanca als Tochter eines französischen Generals, aufgewachsen im Paris einer gebildeten, sehr selbstbewussten Oberschicht.

Diese großbürgerliche Welt muss dem Mitte der Fünfzigerjahre mittellos aus der mittlerweile sozialistischen Volksrepublik Bulgarien zunächst nach Wien geflohenen Kunststudenten Christo zugleich bekannt und sehr exotisch vorgekommen sein. Er betrat sie in Paris 1958 buchstäblich: Eines seiner Engagements als Gesellschaftsmaler führte ihn in das Elternhaus Jeanne-Claudes, Christo sollte Jeanne-Claudes Mutter porträtieren. Mit den schmalen Honoraren, die man für derlei Auftragskunst bekam, hielt der junge Christo sich zunächst finanziell über Wasser.

Jeanne-Claude und Christo wurden gleich ein Paar, sie aber hatte bereits in die Heirat mit einem anderen Mann eingewilligt. Jeanne-Claude war bald schwanger, Christo war der Vater. Was für eine verrückte Romanze! […]

Für das Verhandeln war vor allem Jeanne-Claude zuständig. Und weil das Kunstwerk bei Christo und Jeanne-Claude den Prozess seiner Entstehung einschloss, und weil zu diesem Prozess notwendigerweise die Verankerung einer Idee in ihrer Umgebung gehörte, das Erläutern, das Überzeugen, zur Not auch das Zanken und das Durchsetzen – genau deshalb durfte Jeanne-Claude sich mit dem gleichen Recht und dem gleichen Anteil als Autorin dieses Werks bezeichnen wie Christo. Der skizzierte die Ideen und fertigte dann oft Hunderte von Zeichnungen an, um mit deren Erlös auf dem Kunstmarkt die gigantischen, oft viele Millionen Dollar teuren Projekte der beiden zu finanzieren.

Alles gehörte zum Konzept ihrer verstörend schönen, oft romantischen, manchmal auch kitschigen, aber immer gedankenstrengen Konzeptkunst – auch dass die zwei nie einen anderen Autorenvermerk duldeten als Christo und Jeanne-Claude. Und dass sie nie im selben Flugzeug reisten, wer sollte denn im Falle eines Unglücks all die Projekte zu Ende bringen? Dass sie nie auch nur einen Dollar an Unterstützung annahmen, nicht von der öffentlichen Hand und nicht von Werbepartnern, um nie auch nur in die Nähe einer Verpflichtung zu geraten. Und dass sie, um ihre Arbeit zu datieren, immer den gesamten Zeitraum angaben, von der ersten Idee bis zum wirklich endgültigen Ende des Kunstwerks, seinem Verschwinden.

Der Prozess war das eigentliche Kunstwerk


Der Prozess war das eigentliche Kunstwerk: von der ersten Skizze über das Verhandeln und Verzweifeln, das Planen, Vorbereiten, die Suche nach bezahlten Helfern und dem passenden Material, bis zu dem Tag, an dem der letzte Lastwagen das letzte Stück Plane abgefahren und einem ökologisch sinnvollen Weiterleben zugeführt hatte. Die verhüllte und verschnürte Brücke Pont-Neuf über die Seine in Paris also: 1975 bis 1985.
›The Umbrellas‹, ein Meer aus riesigen, gelben und blauen Schirmen, zeitgleich aufgespannt in Kalifornien und in Japan und sogar aus dem Weltraum zu erkennen: 1984 bis 1991. Die ›Gates‹ im New Yorker Central Park, 7.503 hohe Tore, von denen sonnengelbe Vorhänge flatterten: 1979 bis 2005.

 


Der Moment, an dem diese Idee einer geteilten Gemeinsamkeit in das Konzept der modernen Kunst einfloss, lässt sich genau bestimmen: Es war die Nacht des 27. Juni 1962. Christo, immer noch recht fremd in Paris, doch fasziniert von der radikalen Gruppe der Nouveau Réalistes um den Kritiker Pierre Restany und Künstler wie Yves Klein, Arman und César, hatte die schmale Rue Visconti mit einem eisernen Vorhang aus leeren Ölfässern versperrt. Die Polizei rückte an, um dem Spuk ein Ende zu bereiten – aber niemand hatte mit der schneidigen Generalstochter gerechnet. Jeanne-Claude wusste, wie mit Uniformträgern umzuspringen war. Die Wand blieb stehen.


Jeanne-Claude starb 2009. Christo aber machte weiter. Das Projekt ›Over the River‹, 1992 gemeinsam begonnen, stand in einer kritischen Phase. Das Künstlerpaar wollte einen Bergfluss im US-Bundesstaat Colorado über rund zehn Kilometer mit einer halb transparenten Plane abdecken. Das Licht sollte sich auf deren Oberfläche brechen, es sollte funkeln, so ähnlich wie es zuvor in einem Tal in Kalifornien (›Running Fence‹, 1972 bis 1976), an einem Küstenstreifen in Australien (›Wrapped Coast‹, 1968 bis 1969) 


oder bei einer Gruppe von Inseln vor der Küste von Florida (›Surrounded Islands‹, 1980 bis 1983, siehe unten) geschehen war: Der temporäre Eingriff in eine Landschaft in den Kunstwerken von Christo und Jeanne-Claude löst einen Ort aus seiner Umgebung heraus und verändert damit auch seine Bedeutung.
Sah man nicht auch das Gebäude des Reichstags in Berlin mit ganz anderen Augen, nachdem es 1995 erst ver- und dann eben wieder enthüllt worden war von Jeanne-Claude und Christo? Der Bundestag als Hausherr hatte über die Erlaubnis zur Realisierung des Projekts 1994 eigens abgestimmt, 292 Abgeordnete hatten sich dafür, 223 dagegen ausgesprochen. Und so durften bald Hunderte von Helfern über die Fassade klettern, um die silbrig glänzende Plane aus Polypropylen zu vertäuen. 24 Jahre haben Christo und Jeanne-Claude in dieses Projekt investiert. Waren das nicht Augenblicke im Sommer 1995, in denen ein ganz neues Gefühl von Gemeinschaft in Deutschland aufschimmerte, vielleicht gar so etwas wie Bürgerstolz? Fünf Millionen Menschen sollen den verhüllten Reichstag besucht und selbst in Augenschein genommen haben in jenen kurzen zwei Wochen.

surrounded islands





Das Projekt ›Over the River‹ hingegen scheiterte am Ende. Alle Pläne waren abgeschlossen, die nötigen Genehmigungen erbeten, Bürgerinitiativen zum Schutz der Flora und Fauna waren beruhigt, Christo hatte die Papiere, Tausende von Seiten, in seinem Haus in der Howard Street zu einem mächtigen Klotz gebündelt. Das machte er nun mal so. Doch im Januar 2017 gab er schließlich auf. Gerichtsverfahren hatten das Projekt hinausgezögert. Und nun, unter dem neu gewählten Präsidenten Donald Trump, der damit auch zum temporären Verwalter des Grunds am Arkansas River wurde, sah Christo keinen Sinn mehr darin, den Zauber einer anderen Wirklichkeit zu demonstrieren, indem er die Landschaft für ein paar Tage mit schimmernder Folie verhüllen würde.

Und so bleibt dieses Werk unvollendet, das Christo und Jeanne-Claude seit 1992 gemeinsam konzipiert und geplant hatten. Ein anderes hingegen wird postum vollendet werden im September 2021, die bereits 1962 erdachte, ursprünglich für dieses Jahr geplante und zuletzt wegen der Corona-Pandemie verschobene Verhüllung des Arc de Triomphe in Paris, die eigentlich parallel zu einer Retrospektive von Christos und Jean-Claudes Werk im Centre Pompidou stattfinden sollte. Christo ist, kurz vor seinem 85. Geburtstag, am 31. Mai in New York City gestorben.

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